Das nächste Ziel auf unserer Reise war Estland, um genauer zu sein: Tallinn. Nach den ruhigen und entspannten Tagen in Finnland kam uns so eine lebendige Stadt gerade recht.
Da unsere Fähre um 23 Uhr anlegte, hieß es erst einmal einen geeigneten Schlafplatz zu finden.
Glücklicherweise war unweit vom Hafen ein einladender Parkplatz, auf dem für 24 Stunden parken lediglich zwei Euro abverlangt wurden. Da man von diesem Parkplatz zudem nur fünf Minuten in die Altstadt benötigte, stellte er sich als idealer Stellplatz heraus, so dass wir dort zwei Nächte verbrachten.
Zu Tallinn selbst braucht gar nicht viel gesagt werden. Die Stadt ist unfassbar schön.
Wir hatten das Glück sie frühmorgens und spät abends vor bzw. nach den zahlreichen Kreuzfahrtgästen erkunden zu können und kamen aus den schwärmen gar nicht mehr heraus. Die mittelalterliche Altstadt, in der zahlreiche kleine Boutiquen versteckt sind, Cafés zum Verweilen einladen und die Gerüche der zahlreichen Restaurants einem die Sinne vernebeln, übertrifft alle bisher besuchten Städte auf unserer Reise. Gepaart mit unserem Highlight, der Telliskivi Creative City, ist Tallinn der ideale Ort für einen Städtetrip.
In der eben angesprochen Creative City wurden alte Fabrikhallen zu Ateliers, Galerien, Startup-Büros oder Vergleichbaren umgerüstet und somit ein Ort geschaffen, an dem sich alle möglichen Freigeister entfalten können. Nachdem wir am ersten Tag noch völlig überwältigt waren von all den verrückten Eindrücken, haben wir am nächsten Tag uns nochmal dort wiedergefunden und bei einer Tasse Kaffee das Geschehen beobachtet, uns von dem dort vorherrschenden Vibe anstecken lassen und ebenfalls unserer Kreativität freien Raum gelassen. Als ich in diesem Moment an mein tristes Büro dachte, bemerkte ich einmal mehr, wie wichtig die Arbeitsatmosphäre ist und schwor mir, sollte ich irgendwann wieder arbeiten, darauf definitiv mehr Wert zu legen.
Was macht Tallinn sonst noch aus? Second-Hand und Antiquitäten-Läden! In keiner anderen Stadt haben wir so viele tolle Second-Hand- bzw. Antiquitäten-Läden gesehen. Jessy konnte ihr Glück kaum fassen und hat, ganz zur Freude von Eddie und mir, definitiv keinen Shop ausgelassen.
Bei aller Euphorie über die Schönheit dieser Stadt ist uns allerdings auch aufgefallen, dass die Menschen deutlich reservierter waren, als zuvor in den skandinavischen Ländern. Finnland kann man dabei ausklammern, da wir zum einen kaum Menschen getroffen haben und zum anderen da Finnland ja ohnehin für seine zurückhaltenden Einwohner bekannt ist. Auf jeden Fall waren ein Lächeln bzw. ein aufrichtiges Lächeln oder ein freundliches „Hallo“ eher Rarität. Selbst das obligatorische „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ im Supermarkt blieb oftmals aus.
Diese Tatsache führte bei uns zu dem voreiligen Schluss, dass die Esten unfreundlich wären. Glücklicherweise wurden wir eines Besseren belehrt.
Doch bevor ich damit aufräume, möchte ich noch erwähnen, dass wir uns nach unserem Aufenthalt in Tallinn entlang des Finnischen Meerbusens Richtung Osten bewegt haben.
Dort haben wir u. A. eine Wanderung durch die Viru-Moore unternommen und nach Pilzen Ausschau gehalten. Grundsätzlich kann man sagen, dass uns die Landschaft in Estland sehr an zu Hause erinnert hat. Da wären zum einen die schönen Ostseestrände und zum anderen die tollen Waldgebiete mit den zahlreichen Seen, die mit dem Gebiet rund um die Mecklenburgische Seenplatte vergleichbar sind.
In einem dieser Wälder haben wir unseren guten Heins im Übrigen an seine Belastungsgrenze gebracht. Auf der Suche nach einem Stellplatz haben wir einmal mehr auf die App „Park4night“ vertraut. Dort hieß es in einem Kommentar zu einem augenscheinlich schönen Spot, dass die Zufahrt für Wohnmobile schwierig, aber für kleine Camper kein Problem sei.
Als wir allerdings die Zufahrtsstraße erreichten, kam mir der Gedanke, dass ausschließlich Panzer den Stellplatz problemlos erreichen können. Die Straße glich eher einem Trampelpfad und war durch große Schlaglöcher und herausragende Wurzeln gekennzeichnet. Aber wir sind ja auf einem Abenteuer und was gibt es abenteuerlicheres, als verlassenen Wegen zu folgen? Richtig! Nicht so viel und wo ein Wille ist, ist ja bekanntlich auch ein Weg.
Dort war definitiv kein Weg. Knappe zehn Minuten folgten wir der Route bis uns ein überdimensionales Schlagloch, welches eher als Kuhle angesehen werden kann, endgültig zum Umdrehen zwang. Umdrehen ging nur leider nicht. Also ging es im Rückwärtsgang den ganzen Weg zurück. Nach weiteren zehn Minuten inklusive einmal festfahren erreichten wir endlich wieder eine Straße, die den Namen auch verdiente. Angespannt bzw. genervt suchten wir uns einen Parkplatz in der Nähe und siehe da: Dieser erwies sich als wahrer Glücksgriff. Nicht nur, dass wir dort direkten Strandzugang hatten, sondern er war auch nagelneu und mit dementsprechend schönen Duschen ausgestattet.
Der frische Asphalt schrie uns zudem förmlich an, endlich mal unsere Longboards rauszuholen und ein paar Runden zu drehen. Und auch das Wetter spielte mit! Bei knapp 30°C tankten wir bis in den späten Nachmittag reichlich Sonne.
Warum also nach bereits einer Nacht weiterfahren? Zum einen hatten wir einen überaus wichtigen Termin, der bereits seit Jessy´s Geburtstag eine Woche zuvor seine Schatten vorauswarf und somit unseren Routenverlauf bestimmte: Ende August hatten wir uns als Überraschungsgäste zum 30. Geburtstag unseres guten Freundes Joey angekündigt. Daher hatten wir zu diesem Zeitpunkt nur noch gut zwei Wochen Zeit, bis wir Deutschland erreichen mussten bzw. wollten.
Der andere Punkt ist weitaus weniger spektakulär, aber dennoch bedeutsam: Wir mussten einmal mehr Wäsche waschen. Doch dieses Mal avancierte das Wäsche waschen zu einem wahren Segen, denn nur dadurch konnten wir mit dem Vorurteil aufräumen, dass die Esten unfreundlich wären.
Unser Plan sah vor, in Richtung Tartu zu fahren. Tartu ist die zweitgrößte Stadt Estlands und soll ebenso sehenswert sein wie Tallinn. So oder so gingen wir davon aus, dort unsere Wäsche waschen zu können.
Allerdings wollten wir an diesem Abend nicht in einer Stadt übernachten, da die Nacht versprach, besonders viele Sternschnuppen hervorzubringen.
Daher entschieden wir uns für einen Platz im Wald fernab von jeglichen Lichtern. Der Stellplatz, den wir fanden, war ein wahrer Traum: Eine Anhöhe im Wald, Blick auf einen See und am Horizont die untergehende Sonne. Anfangs hatten wir den Platz sogar komplett für uns allein, doch als wir uns gerade ausbreiten wollten, bekamen wir Besuch von weiteren Campern.
Der Platz füllte sich nach und nach und jeder konnte ein schönes Plätzchen zum Übernachten finden. Der letzte Besucher, der eintraf, hatte allerdings keine freie Sicht mehr auf den See und nachdem er eine Runde über den Platz gedreht hatte, befürchtete ich bereits, dass er sich genau zu uns stellen wollte. Und so nahm alles seinen Lauf: Das Auto wurde abgestellt, ein Baum von einem Mann stieg aus und bewegte sich in unsere Richtung. Kahlgeschoren, Vollbart, Armeehose und -stiefel. Die Art von Mann, bei der man sich fragt, warum er überhaupt einen Camper zum Übernachten braucht, da er wahrscheinlich problemlos auch so im Wald überleben würde.
Ich bekam es mit der Angst zu tun, blickte ihn an und wog ab: „Soll ich ins Auto springen und losfahren? Aber was wird dann aus Eddie und Jessy? Ach, Jessy ist taff. Die schafft ihn schon.“ In der Zeit, in der sich die Gedanken in meinem Kopf überschlugen, war er bereits angekommen und fragte in außerordentlich liebevoller Art und Weise, ob es uns was ausmachen würde, wenn sie sich genau neben uns stellen. Wir verständigten uns dabei mit Händen und Füßen, da er nur russisch sprach. Letztendlich habe ich ihn eingewiesen, woraufhin er freudestrahlend ausgestiegen war und sich als Sergej vorstellte. Den Camper benötigte er übrigens, da er mit Frau, Tochter und Hund reiste. Er selbst schlief selbstredend draußen.
Später am Abend, nachdem Jessy und ich gegessen hatten, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sprach ihn bzw. seine Frau an. Seine Frau sprach wie fast alle Esten sehr gutes Englisch.
Wir waren die Einsamkeit leid und reisten ja letztendlich auch, um die Menschen der bereisten Länder kennenzulernen und da wir in Estland nicht angesprochen wurden, lag es an uns Kontakt herzustellen.
Amüsant war der Umstand, dass Jessy, als vermeintlich kommunikativere von uns beiden, an diesem Abend so gar nicht mehr auf „kennenlernen“ eingestellt war und bereits bettfertig im Bus auf mich wartete. Als ich nach 15 Minuten noch immer nicht auftauchte, schaute sie um die Ecke und stellte überrascht fest, dass ich bei Sergej, seiner Frau Katja und Tochter Nicole Platz gefunden hatten. Jessy setzte sich dazu und wurde prompt mit einem Fell gegen die Kälte von Sergej versorgt.
Weiterhin wurde russische Schokolade herausgeholt, Salzgurken serviert und Rum eingeschenkt. Voller Stolz berichtete uns Sergej zudem über Estlands Highlights. Dabei sprach er ununterbrochen russisch, was seine Frau Katja für uns bzw. ausschließlich für Jessy ins Englische übersetzte. Ausschließlich für Jessy, da ich am Rande erwähnte, dass ich in der Schule Russischunterricht hatte und ein bisschen was verstünde. Sergej hat daraus interpretiert, dass ich die Sprache perfekt spreche und durchweg auf mich eingeredet. Am Rande sei erwähnt, dass in Estland ein großer Teil der Bevölkerung russisch sprachig ist, was nicht selten zu gesellschaftlichen Problemen in dem Land führt.
Später am Abend gesellten sich noch ein belgischer Professor und eine estnische Dozentin zu uns, was die Runde noch vielseitiger hat werden lassen. Zu guter Letzt haben wir uns alle zusammen an den See begeben, die Köpfe gen Himmel geneigt und nach Sternschnuppen Ausschau gehalten.
Und als ob die Nacht nicht schon schön genug war, wurden auch die Ankündigungen erfüllt und wir konnten zahlreiche Sternschnuppen entdecken.
Am nächsten Morgen folgte dann das eigentliche Highlight dieser Begegnung: Der Kopf drehte sich noch ein wenig aufgrund der verrückten Konstellation des Vorabends – vielleicht war es auch der Rum – da schaute Katja bereits bei uns vorbei und fragte in ihrer schüchternen Art, ob wir nicht bei ihnen zu Hause unsere Wäsche waschen und warm duschen wollten. Jessy und ich tauschten kurz Blicke und realisierten umgehend, dass wir so ein Angebot wohlmöglich nie wieder bekämen und willigten ein. Zumal der Weg laut Katja nur 15 Minuten von unserem Stellplatz dauern sollte.
Am Nachmittag fuhren wir dann los. Auf zu Katja und Sergej! Ein klein wenig komisch war uns dabei schon zu Mute, zumal Katja im englischen immer 15 und 50 verwechselte, so dass wir letztendlich eine knappe Stunde hinter ihnen herfuhren. Sergej avancierte allerdings als Guide und legte einige Zwischenstopps ein, um uns was von Estland zu zeigen. Leider stieg nur er an den Stopps aus, so dass wir aufgrund der Sprachbarriere nicht genau wussten, was diese Orte so besonders gemacht hat.
Als wir schlussendlich beim Zuhause von Sergej und Katja ankamen (übrigens in einem verlassenen Industriegebiet), staunten wir nicht schlecht, dass die beiden nebenbei ein kleines Motel für Trucker führten. Wir wussten, dass Katja Bibliothekarin ist und Sergej ein Museum führt, aber von einem Motel hatten sie am Vorabend nichts erwähnt.
Unsere Verwunderung wurde noch größer, als Katja zum gemeinsamen Abendessen einlud und uns anbot, die Nacht in einem ihrer Zimmer zu verbringen. „No Money“ natürlich. Wir konnten unser Glück kaum fassen und willigten ein.
Da noch etwas Zeit bis zum Abendessen war, bekamen wir selbstredend noch eine Privatführung durch Sergej´s Museum. Ein Militärmuseum. Voller Inbrunst und Freude stellte er uns Reliquien der zwei Weltkriege vor, wobei seine Sammlung vor allem deutsche und sowjetische Stücke umfasste.
Die Leidenschaft und der Stolz über seine Arbeit, steckte uns förmlich an, so dass wir bald vergaßen, nicht die gleiche Sprache zu sprechen. Irgendwie gibt es sie dann doch, diese Universalsprache fernab von Worten.
Nach dem gemeinsamen Essen wurde einmal mehr Schokolade sowie Rum serviert und wir unterhielten uns über Gott und die Welt. Corona, Politik, Arbeit, Autos, Sport… unsere Themen waren grenzenlos und es war überaus bereichernd Einblick in die estnische Kultur zu erhalten.
Am darauffolgenden Tag halfen uns Sergej und Katja zudem dabei unsere Estland Challenge zu absolvieren. Beim Wife-Carrying, einer Sportart bei dem die Esten weltweit führend sind, musste ich Jessy über einen Parcours tragen. Dank der Hilfe der beiden wurde aus dieser ohnehin schon lustigen Challenge ein wahres Spektakel. Wie das Ganze ausgesehen hat, könnt ihr hier sehen.
Als wir uns dann am Nachmittag verabschieden wollten, stand Katja erneut in der Küche und bereitete Essen zu. Diesmal kochte sie sogar extra vegetarisch. Uns war so viel Gastfreundlichkeit sichtlich unangenehm und dennoch war es unmöglich abzulehnen. So fanden wir uns erneut bei einem gemeinsamen Essen wieder. Sergej bekam währenddessen einen Anruf und musste schnell los. Entweder musste eine Gruppe im Museum betreut werden oder es wurde irgendwo ein Panzer gefunden, den er schleunigst abholen wollte. Wir wissen es nicht genau. Russisch eben. Was wir aber genau wissen, ist, dass dieser Mann, unabhängig der sprachlichen Barrieren und sichtlich verrückt, unfassbar viel Liebe und Wärme in sich trägt. Die Umarmung, mit der er uns verabschiedete, löste bei Jessy gar Tränen aus, da so viel Ehrlichkeit in ihr steckte.
Alles in allem konnten wir aus dieser Begegnung sehr viel mitnehmen.
Zum einen ist es wichtig zu erkennen, dass Offenheit Türen öffnen kann. Hätten wir sie nicht angesprochen, hätte sich diese Möglichkeit bzw. Begegnung nicht ergeben.
Zum anderen waren Katja und Sergej ein perfektes Beispiel dafür, wie falsch Vorurteile sein können. Sergej, als Mann des Waldes, entpuppte sich als ebenso sensibel wie waffenliebend und Katja, als reservierte Estin, hat durch ihre Gastfreundlichkeit unsere Herzen erweicht.
Für uns war es eine überaus schöne und bedeutsame Erfahrung, die wir niemals missen wollen.
Das war es nun mit diesem Beitrag. Mit Estland ist allerdings noch lange nicht Schluss, denn obwohl wir uns gar nicht so viel angeschaut haben, war die Zeit dennoch sehr intensiv. Dazu allerdings mehr im nächsten Bericht.
Jessy, Flori & Eddie
Kommentar schreiben
Olli (Freitag, 15 Oktober 2021 11:54)
Schönster Beitrag bis jetzt. So hatte ich in meinem tristen Büro wenigstens ein bisschen was zu lächeln ;)